FRIEDA GRAFE: Filmkritik
Die Zeitschrift Filmkritik wurde 1957 von Enno Patalas und Wilfried Berghahn gegründet. Frieda Grafe veröffentlichte dort in den Jahren 1962 – 1972. Der nachfolgende Text ist Teil einer Reihe aus dem Jahre 1966, in der verschiedene Autor*innen der Filmkritik ihre Vorstellungen zu Rolle, Funktion und konzeptioneller Herangehensweise einer zeit- und fachgemäßen, professionellen Filmkritik präsentierten. Frieda Grafe lieferte seinerzeit wesentliche Impulse zu dieser Diskussion .
Frieda Grafe: Zum Selbstverständnis der Filmkritik (1966)
Der Elan der Anfänge der Filmkritik kam aus der Fronstellung gegen das feuilletonistische und weltanschauliche Geschwafel, das in Deutschland als Filmkritik sich ausgab. Es hatte den Film als Kunstmedium derart in Misskredit gebracht, dass – als positive Folge – die Bildungsbürger ihm bis heute vom Hals blieben. Die Pioniere der Filmkritik versuchten zunächst einmal, aus dem Film ein ordentliches Objekt der Kunstbetrachtung zu machen, und zwar mit einer vorwiegend an der Soziologie orientierten Methode. Es war nur vernünftig, sich des Prestiges der Wissenschaft zu bedienen, und es war naheliegend, auf Raster und ein Vokabular mit der Aura von Objektivität zurückzugreifen, um sich gegen subjektivistische Schwulst abzusichern. Für die weitere Entwicklung dieser Betrachtungsweise war der Umstand nicht unerheblich, dass die ästhetische Relevanz der zur Debatte stehenden deutschen Filme so lächerlich gering war, dass eine für einen von ihnen geprägte Formel mit nahezu absoluter Sicherheit auf alle zutraf.
Gegenbeispiel war der Neorealismus. Aber eben nur Gegenbeispiel. Selbst in den Besprechungen aus der Zeit sucht man vergeblich nach einer reflektierten Beschreibung seines spezifischen Verfahrens. Man empfand die Filme in ihrer Erscheinungsweise als wahr und richtig, als neu, einer bestimmten politischen Haltung adäquat, der geschichtlichen Stunde entsprechend. Aber den ästhetischen Prozess, der sie zum richtigen Ausdruck macht, ließ man ununtersucht. Nur so erklärt sich, dass diese Filme spurlose an der Methode und der Schreibweise dieser Kritik vorübergingen.
Aus der Kampfsituation heraus versteht sich, dass diese Filme vor allem als Endprodukte wichtig waren. Die guten wie die schlechten Filme dienten zunächst einmal als Belege. Der Leser dieser Kritiken – die rund und bündig wirkten und ihr Gegenstand restlos zu erledigen schienen –, der bereit war, den Kampf mitzumachen, konnte die Spielregeln rasch erlernen. So verschwand hinter der Methode nicht nur die Person des einzelnen Kritikers sondern auch der Leser und schließlich noch der Film. Weder veränderten die Filme wahrnehmbar den Kritiker, noch bewirkte dieser die Veränderung des Lesers. Der politisch bewusste Leser mochte durch den Kritiker davon abgebracht werden, Filme als unverbindliche Unterhaltung zu betrachten, und lernen, eine Haltung, die ihm ohnehin eignete, auf den Film anzuwenden. Diese Haltung zu verändern, den Filmen selbst dazu zu helfen, wurde nicht versucht. So dienten diese Kritiken, so politisch sie sich dünkten, letzten Endes vornehmlich der Selbstbestätigung, der des Kritikers und der des Lesers, der mit ihm einig ging.
Offenbar hat es für manch einen den Anschein, dass die Filmkritik neuerdings eben jene Feinde der ersten Stunde in den eigenen Reihen duldet. Es werden Filmkritiken gedruckt, die einerseits auffalle durch Subjektivität; die Person des Kritikers zeigt sich in ihnen mit ihren Bedenken und Unsicherheiten und nicht selten erscheinen die Fragen eines Films, statt auf einen diskursiven Nenner gebracht zu werden, am Schluss nur noch vervielfältigt. Andererseits neigen die Schreiber dieser Kritiken dazu, sich in extremer Weise mit dem Objekt ihrer Kritik zu identifizieren. Weil ihnen ihr Verhältnis sowohl zum Gegenstand der Kritik als auch darüber hinaus die Kommunikation mit ihren Lesern zum Problem geworden ist, versuchen sie die Grundlagen ihres Denkens zu begreifen durch eine größtmögliche Annäherung an ein fremdes Bewusstsein. Und wiederum erst im Bewusstsein ihrer selbst sehen sie die Möglichkeit, Fremdes zu begreifen. Die scheinbare Objektivität der alten Methode empfinden sie daher als bewusstloses Reagieren, das vor allem in der Sprache dieser Kritik sich äußert.
Es entbehrt nicht der Komik, dass Kritiker, die jahrelang bemüht waren, die Vermitteltheit aller anderen zu beweisen, ihr ausschließliches Kommunikationsmittel eben darauf hin nie befragt haben und auch nie das Gefühl hatten, dass, wenn sie Überlegungen mittels der Sprache ausdrückten, Dinge in Fluss kamen, die zu beherrschen sie nicht in der Lage waren. Die „Neuen“ schreiben nicht so eingängig und brillant wie die „Alten“; weil sie nicht das Gefühl haben, über die Sprache zu verfügen; weil Sprache für sie mehr als ein Instrument ist und die Wörter mehr als Substitute der Sachen.
Früher unterschied sich Filmkritik im Prinzip kaum von Literaturkritik oder Theaterkritik. Sie war Übersetzung von schon Formalisiertem in ein anderes Zeichensystem. Die Begegnung mit Kunstwerken war eher ein Akt des Wiedererkennens; man konnte sich auf sie einlassen, ohne nicht zu berechnende Konsequenzen gewärtigen zu müssen. Nun aber gibt es Filme, in die ungeformte Teile von Realität eingelassen werden. Die Position des Kritikers und des Zuschauers vor ihnen unterscheidet sich nicht wesentlich von der des Regisseurs, der sie aufnimmt. Vor unseren Augen organisieren sich Dinge unabhängig von dem, was wir denken können.
Erst in diesen Filmen findet die Vermittlung ihren adäquaten Ausdruck, die in früheren Filmen verharmlost gezeigt wurde, weil es gedachte und folglich domestizierte Vermittlung war. Vor den neuen Filmen geht es darum, noch ungedachte Realität zu denken. Dem Kritiker fällt es zu, erste sprachliche Formulierungen dafür zu finden. Kein noch so gut organisierter wissenschaftlicher Apparat könnte ihn decken. Die Sprache ist erst recht nicht der rationale Verbündete, auf den man bauen könnte, um Ordnung zu instituieren. Sie dominiert den Schreibenden in ähnlicher Weise wie das Ungedachte, das er mit ihrer Hilfe in Reflektiertes zu verwandeln sucht.
Das Neue, das sich in den letzten Jahren im Film ereignet hat, einschließlich des Neuen am Neorealismus, ist mit einer positivistisch verstandenen Sprache nicht mehr zu erfassen. Deshalb hat sich ausgehend von der Sprache der Ansatz der Kritik verändert, und nicht, weil modischen Extravaganzen der Nouvelle Vague zum modischen kritischen Ausdruck verholfen werden sollte.
Fußnote:
Die erste Ausgabe der Monatszeitschrift Filmkritik erschien im Januar 1957. Ständige Mitarbeiter des ersten Jahrgangs waren Wilfried Berghahn, Ulrich Gregor, Theodor Kotulla und Enno Patalas (auch verantwortlicher Redakteur), bis 1961 kamen dazu Dietrich Kuhlbrodt, Reinold E. Thiel, Heinz Ungureit, Martin Ripkens und Günter Rohrbach. Zwischen 1962 und 1966 begannen – außer Frieda Grafe – auch Helmut Färber, Uwe Nettelbeck, Herbert Linder, Klaus Hellwig, Peter H. Schröder, Peter M. Ladiges, Helmut Regel und Peter W. Jansen regelmäßig für die Filmkritik zu schreiben. (A.d.H.)
Vor Frieda Grafe schrieben zu dem Thema: Wilfried Berghahn (in Filmkritik 1/64) und Enno Patalas (in 7/66), gleichzeitig (in 10/66) Ulrich Gregor, später Theodor Kotulla (in 12/66), Helmut Färber und Herbert Linder (alle in 4/67). (A.d.H.)
Aus: FILMKRITIK 10 / 1966, 10. Jg., 10. Heft, 118. Heft der Gesamtfolge, Oktober 1966, S. 588 – 589.
Der Text ist der folgenden Publikation entnommen:
Frieda Grafe. Ausgewählte Schriften in 12 Bänden. Herausgegeben
von Enno Patalas. Band 4: Aus dem Off. Zum Kino in den Sechzigern, S. 10 – 12.
Brinkmann & Bose Verlag, Berlin (2003).
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
»»» Literaturhinweis:
Filmkritik. Register der Jahrgänge 1957–1975
erstellt von Franz Josef Knape, München: Filmkritiker Kooperative 1975.
Das Register ist seit 2018 auch als durchsuchbares PDF verfügbar.
Die Zeitschrift Filmkritik wurde 1984 eingestellt. Ihre Geschichte scheint jedoch noch nicht ganz abgeschlossen. So wurde z.B. die Gründung des Berliner Blogs newfilmkritik.de im Jahre 2001 von der Film-Zeitschrift inspiriert.
Und 2018 erschien – nach über 33 Jahren – endlich die letzte Ausgabe der seinerzeit unveröffentlicht gebliebenen Filmkritik Nr. 335 / 336 (Nov/Dez 1984) im Berliner Verlag Brinkmann & Bose.
[ Beitrag: Idún Zillmann]