FRIEDA GRAFE: Zu Marlene Dietrich
Das große Fräuleinwunder. Zu Marlene Dietrichs 100. Geburtstag. (2001)
Vor einem Jahrhundert wurde sie geboren. Das bringt sie ihrem Publikum erneut näher und erinnert an die Ursprünge ihres Talents – wie ihre Eigenart geformt wurde von einer Stadt, die damals die Filmemacher, Kameraleute inbegriffen, in Scharen anlockte. Dahin wollte sie zurück, als Tote, an die Seite ihrer Mutter nach Friedenau.
Sie ließ sich nicht anbeten, sich selbst kein Mythos, sie wollte auch leben. Der Wunsch, beides miteinander zu verbinden, das Bild und die Realität, brachte ihr die bitersten Enttäuschungen. Der Film Martin Roumagnac, den sie mit ihrem geliebten Jean Gabin drehte, kurz nach dem zweiten Weltkrieg, war ein Desaster und führte sie zu der Einsicht, dass die Namen zweier Stars noch keinen Filmerfolg garantierten. Schon gar nicht in Amerika, das ans seine Zahlen, an seine Dimensionen sie gewöhnt hatte.
Das Porträt, da man von ihr machen kann, kommt ihr am nächsten, wenn man es indirekt angeht, über die Person ihres Entdeckers Josef von Sternberg. Der sagte, dass alles, was später ihren Ruhm und ihren Ruf ausmachte, schon vorhanden war, als er sie zum ersten Mal auf einer Berliner Theaterbühne sah. Mit Hilfe des Kinos, der Kamera, wie nur er sie zu handhaben wusste, entwarf er die Figur, ein Zeitbild. Jannings, den er erfolgreich in dem Stummfilm The Last Command geführt hatte, holte Sternberg nach Berlin. Und das Küken stahl ihm die Schau.
Sie war wissbegierig und begriff unter Sternbergs Anleitung, wie das damals neue Medium beschaffen war und wozu fähig, wie es demjenigen dankt, der sich ihm – er im Unterschied zu ihr – ganz und gar verschreibt. Ales, was für ihn das Kino war, ließ an ihr sich zeigen. In den freizügigen dreißiger Jahren machte selbst Hollywood mit. Wie die Fünfziger die amerikanischen Genres konsolidierten, waren in den Dreißigern die Fremden, vor allem die fremden Frauen, des Kinos größte Attraktion.
Von der Paramount war Josef von Sternberg nach Europa gekommen, auch weil er, in Wien geboren, das Idiom verstand, und bei ihm die sich durchsetzende Tonfilmtechnik in guten Händen war. Man einigte sich bei der Ufa, immer mit Jannings, schließlich auf Heinrich Manns erfolgreichen Roman Professor Unrat. Mann sah sich verstanden und approbierte Sternbergs Version, während deutsche Kritiker eine Kulturschande darin sahen, dass das tragische Geschick des Professors zweitrangig geworden war, über dem Aufstieg der Neuen; sie meinten, das Kino hätte sich an der Literatur vergriffen, während es nur wiedergab, was Heinrich Mann heraufkommen gespürt hatte.
Möglich, dass Marlene Dietrich ihre zweite Karriere, als Diseuse, auch diesen Anfängen verdankt. Viele Hollywoodstars sind, naheliegend, auf Las Vegas umgestiegen. Marlene Dietrich hat, ihrer Anfänge eingedenk, neu begonnen und daraus ihren Ton, ihren Akzent entwickelt.
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Der Text ist der folgenden Publikation entnommen:
Frieda Grafe. Ausgewählte Schriften in 12 Bänden. Herausgegeben
von Enno Patalas. Band 8: Geraffte Zeit, S. 116 – 120.
Brinkmann & Bose Verlag, Berlin (2005).
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags.